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Obsidian, Joplin und das Produktivitäts-Paradoxon

Viele Nutzer greifen zu Obsidian in der Hoffnung, ihre Produktivität zu steigern. Doch oft tritt genau das Gegenteil ein – die App kann mehr Zeit verschlingen, als sie einspart. Dieses Phänomen ist als das „Produktivitätsparadoxon“ bekannt.

Obsidian, Joplin und das Produktivitäts-Paradoxon

Die Tücken der Anpassbarkeit

Obsidians größte Stärke – die schier endlose Anpassbarkeit – erweist sich oft als seine größte Schwäche. Nutzer können sich leicht in einem Strudel endloser Optimierungen verlieren. Jede Minute, die mit dem Feintuning von Plugins und Systemeinstellungen verbracht wird, ist eine Minute, die nicht für tatsächliche produktive Arbeit oder tolle Ideen genutzt wird.

Im offiziellen Subreddit von Obsidian, kann man wiederholt lesen, wie man was am besten in Obsidian organisiert, und viele verbringen mehr Zeit damit, ihre Notizen und Journale besonders hübsch aussehen zu lassen oder die optimale Struktur zu finden, als Obsidian an Zeit spart.

Die Qual der Wahl

Die Fülle an Optionen in Obsidian führt oft zum Auswahlparadox und Obsidian ist hier das Subway der Personal Knowledge Management Systeme (PKM oder PKMS). Ich gehe nicht zu Subway, weil mich die tausend Fragen nach Brot, Belag, Soße, Cookies usw. einfach nur nerven. Wenn ich in einen solchen Laden gehe, will ich essen – schnell und einfach und keinen Multi-Choice-Test absolvieren.

Anstatt effizient zu arbeiten, verbringen Nutzer kostbare Zeit damit, die perfekte Konfiguration zu finden (die es ohnehin nicht geben kann). Dieses Überangebot kann zu Stress und Unzufriedenheit führen, anstatt die versprochene Produktivitätssteigerung zu liefern.

Das Obsidian Rabbit-Hole

Selbst wenn man sein perfektes Setup gefunden hat, ist man nicht aus dem Schneider. Updates können Plugins unbrauchbar machen, kritische Funktionen können plötzlich nicht mehr unterstützt werden. Für vielbeschäftigte Kopfarbeiter kann dies zu einer echten Katastrophe werden.

Letztendlich geht es darum, schnell Gedanken, Wissenswertes und – Vorsicht, blödes Wort: Aufhebenswertes, so einfach wie möglich festzuhalten und wiederzufinden. Templates für ein tägliches Journal, also Inhalte mit immer gleicher Struktur, sind sicher sinnvoll, aber nicht jeweils ein Template für jeden Mist, nur weil es hübsch und konsitent aussieht. Einfache Notizen sind einfacher Text – ohne tolle Headergrafik, zig Icons und Emojis. Wenn man Entwickler ist, sollen Code-Schnipsel ordentlich dargestellt werden, und das war es. Copy-and-paste. Festgehalten. Fertig! Get Shit Done!

Ein ordentliches PKM hat eine Suchfunktion, die Inhalte schnell wieder auffindet und einige wenige Tags sorgen für zusätzliche Struktur.

Ein Obsidian-Universum

Oft habe ich aber gerade bei Obsidian und Notion den Eindruck, dass es wie ein Poesiealbum genutzt wird, was besonders schön und eindrucksvoll aussehen soll. Die Graph-Ansicht wird gerne stolz in Foren geteilt und sieht häufig aus, als ob das James-Webb-Teleskop gleich mehrere Galaxien mit Myriaden von Sternen fotografiert hätte. Es geht nicht mehr um das PKMS als hilfreiches Werkzeug, sondern um das Werkzeug selbst. Der Selbstoptimierungswahn der Gen-Z tut da sein Übriges. Wenn man nichts produktives getan hat, so hat man zumindest Obsidian wieder etwas verbessert und ein Stück komplexer gemacht.

Gerade wenn es um das Thema Journaling geht, also die Aufzeichnung der Aktivitäten, Gedanken und Erlebnisse des Tages – vulgo: Tagebuch – tun sich bizarre Dinge auf. Zwar halte ich auch fest, was ich angefangen habe oder mache Notizen über Gespräche etc. Wenn ich aber sehe, dass jede Serienepisode, jeder Film, jedes Buch etc. mit Inhalt und Meinung dazu niedergeschrieben wird, bin ich raus. Allerdings bin ich auch bei „Achtsamkeit“ raus. Man muss heute so Achtsam sein, dass es schon wieder zum Stressfaktor wird. Man kann auch einfach einmal nichts tun – ganz ohne achtsam zu sein. Und man muss auch nicht jeden Tag etwas in Journal schreiben. Wenn es nichts gab, gab es eben nichts. Ein PKMS soll helfen und unterstützen. Es soll keinen zusätzlichen Aufwand erzeugen und darf nie im Weg stehen.

Was ist denn wirklich „aufhebenswert„?

In diese Falle bin ich auch getappt und das schon, seitdem ich 2010 mit Evernote begonnen habe. Bookmarks, irgendwelche temporären Notizen, die Stunden oder nur wenige Tage später ohnehin überflüssig waren, PDFs, Rechnungen etc. – alles floss in Evernote. Das Ergebnis war ein Wust an Inhalten. Im Zuge meiner Tests und Wechsel zwischen verschiedenen PKMS, habe ich diese Inhalte aussortiert, bevor ich sie in ein neues System importiert habe.

Von fast 1 GB an Export-Daten aus Evernote, blieben letztendlich 80 MB (inkl. Anhängen wie Bilder) an wirklich noch immer relevanten Informationen übrig. Der Rest war veraltet oder aus anderen Gründen nicht mehr relevant.

MDH für Notizen festlegen

Ich habe mich darum dazu entschlossen, eine Art Mindesthaltbarkeitsdatum für meine Notizen einzuführen. Damit definiere ich einen Zeitraum, den ich bei der Erstellung einer Notiz vorgeben und der mir sagt, wie lange ich eine Notiz aufheben will.

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Braunschweiger_Mettwurst_W_25_MSZ111114.jpg

Das habe ich über einige wenige und einfach verstehbare Tags realisiert:

keep-1w, keep-1m, keep-3m, keep-6, keep-1y, keep-5y und letztendlich keep

Temporäre Notizen, werden eine Woche aufgehoben (keep-1w). Wichtige Dinge z. B. 1 Jahr (keep-1y) und hat eine Notiz das Tag keep, wird es immer aufgehoben, was etwa für Journaleinträge sinnvoll ist.

Jedes PKMS kann nach Tags suchen. Eine Suche nach keep-1w bringt die Notizen mit kurzer Lebensdauer zu Tage, die man dann schnell und einfach löschen, in eine neue Notiz überführen oder mit einem neuen MDH versehen kann. Damit hält man sein PKM schlank und übersichtlich.

Nicht für jeden Mist eine eigene Notiz anlegen

Auch das ist eine Erkenntnis aus vielen Jahren des persönlichen Knowledge Managements. Es ist viel zu umständlich und damit zeitaufwendig, für jeden Gedanken des Tages oder der Woche eine eigene Notiz mit Titel, Tags oder Ordner anzulegen. Ich nutze hier einfach eine Art digitalen „Schmierzettel“. Eine große Notiz, die ganz oben angepinnt ist und in die ich alles ganz schnell kopieren und schreiben kann. Komplett unformatiert und bestenfalls mit einem Zeitstempel pro Thema und Eintrag. Diese Notiz öffnet sich auch automatisch, wenn ich mein PKMS öffne.

Photo by Kyle Glenn on Unsplash

Am Ende des Tages, der Woche etc., gehe ich die Inhalte durch und kann hier meist schon mehr als die Hälfte der Inhalte einfach löschen. Der Rest wird in eigene Notizen verschoben. Fertig!

In einer Notiz lose sammeln. Bei Gelegenheit sortieren. Großzügig löschen.

Horses for Courses – das richtige System für die jeweilige Aufgabe

Mit Evernote war, auch mangels an Alternativen, alles in Evernote. Bookmarks, PDFs, Scans usw. Es war eher Dokumentenmanagement als Notiz-App. Der Grund dafür, war auch die hervorragende Texterkennung in Scans und Bildern, sowie die Volltextsuche in PDFs. Obsidian und andere PKMS können das zwar (über Plugins) teilweise auch, aber größtenteils nicht wirklich gut. Darum habe ich schon vor längerer Zeit die Anwendungen getrennt.

Photo by Los Muertos Crew on Pexels

Es ist einfach problematisch, wenn man Funktionen in ein System zwingen will, für das es eigentlich nicht gemacht und gedacht ist. Wie heißt es doch so schön:

„Wenn dein einziges Werkzeug ein Hammer ist, sieht die ganze Welt wie ein Nagel aus.“

Metallbauer, bauen alles aus Metall, auch wenn Holz oft sinnvoller wäre – und umgekehrt. Das kann man in fast allen Bereichen und besonders bei Software erkennen.

Dokumentenmanagement mit Paperless NGX

Rechnungen, Verträge, Scans etc. gehen direkt in Paperless NGX, da auf meinem Homeserver als Docker-Container läuft. Es ist die perfekte und kostenlose Lösung fürs effiziente Dokumentenmanagement. PDFs in Mail, wie z. B. Rechnungen, werden per Regel automatisch an Paperless weitergegeben und verarbeitet. Papierdokumente kommen in den Epson ES-580W Scanner, der neben mir auf dem Schreibtisch steht. Auch dieser scannt die Inhalte direkt zu Paperless.

Paperless NGX Dokumentenmanagement

Paperless lernt mit der Zeit von selbst, die Inhalte zu kategorisieren und zu sortieren. Die Texterkennung ist ausgezeichnet, und die Volltextsuche hat mich noch nie im Stich gelassen. Backups der Datenbank und Inhalte gehen jede Nacht (verschlüsselt) zu einer Hetzner Storage Box.

Bookmarks mit Readeck

Viele externe Dienste, die ich lange Zeit genutzt habe, laufen nun auf meinem Homeserver. Der Grund hierfür ist nicht nur die zunehmende Enshittification, sondern auch, dass ich wieder Herr über meine Daten sein möchte. Evernote hat gezeigt, wie schwierig Anwendungen mit Lock-in-Effekt sind. Solange man dabei bleibt, ist alles okay – aber wehe, man möchte zu einer anderen Anwendung wechseln.

Ein enttäuschendes Beispiel dazu war der Bookmark-Dienst Omnivore. Eine perfekte kostenlose Anwendung, schön designt und toll in Bedienung und Funktionsumfang – die ideale Alternative zu Pocket. Dann kündigten die Omnivore-Macher an, dass der Dienst in 2 Wochen für immer dichtmacht.

Auf meiner Suche nach einer selbst gehosteten Alternative, bin ich von Wallabag über Hoarder (zu instabil und komplex) zu Readeck gekommen. Readeck bot einen Omnivore-Importer an und damit sind die Bookmarks nun auf meinem eigenen Server.

Bookmarks in Readeck als Alternative zu Pocket

Auch für die Bookmarks benutze ich mein MDH-System mit keep-1w etc., denn nichts ist sinnloser, als tausende von Bookmarks, deren Ziel es nach einiger Zeit nicht mehr gibt.

Bookmarks gehören meiner Ansicht nach auch nicht in ein PKMS. Offenbar wird Omnivore weiterentwickelt und steht als Selbsthosting-Lösung zur Verfügung.

Joplin als bessere Alternative zu Obsidian

Mit Joplin habe ich einige Anläufe genommen. Zu verführerisch waren aber die unendlichen Möglichkeiten und Optionen von Obsidian. Im Gegensatz dazu bietet Joplin eine ausgewogenere Lösung:

Einfachheit und Zuverlässigkeit: Joplin kommt mit einem umfangreichen Funktionsumfang out-of-the-box, ohne dass man sich in endlosen Anpassungen verlieren muss. Einige wenige Plugins genügen, um den wesentlichen Funktionsumfang von Obsidian abzubilden.

Joplin

Flexibilität bei der Synchronisation: Joplin unterstützt eine Vielzahl von Synchronisationsdiensten, was die Flexibilität erhöht. Ich habe einen Obsidian-Server als Docker-Container laufen und die Synchronisation funktioniert über 3 Macs, 2 Windows-Rechner, Android und iOS problemlos.

Das war einer der Hauptgründe, die mich bei Obsidian gestört haben. Sofern man nur z. B. zwischen Apple-Geräten synchronisieren will, geht das per iCloud relativ problemlos. Auch zwischen Windows und Android z. B. per Syncthing oder Google Drive. Hat man jedoch macOS, Windows, Android und iOS am Start, wird es schwierig. Hier bleibt nur die (wirklich sehr gute) kostenpflichtige Sync-Lösung von Obsidian. Damit habe ich auch kein Problem damit, für einen Dienst zu bezahlen, aber ich möchte meine Daten einfach bei mir haben.

Das Remotely-Safe Plugin von Obsidian macht mit mehreren Geräten nur Probleme und scheidet damit als kostenlose Sync-Lösung für Obsidian aus. Eine kostenlose Sync-Lösung auf Basis einer CouchDB habe ich getestet, da sie wohl sehr nahe an der Obsidian-eigenen Sync-Lösung sein soll. Allerdings hatte ich jede Menge Synchronisationsfehler

Open-Source-Vorteil

Als Open-Source-Software profitiert Joplin von einer aktiven Entwicklergemeinschaft, die ständig an Verbesserungen arbeitet. Obsidian ist hingegen Closed Source. Sollten sich die Obsidian-Entwickler dazu entscheiden, das Produkt einzustellen oder zu verkaufen, muss man sich nach einem neuen Tool umsehen. Obsidian speichert alle Inhalte zwar in Markdown-Dateien im Dateisystem, allerdings stünden dann viele Features, die über die vielen Plugins bereitgestellt werden, im neuen System nicht mehr zur Verfügung. Zudem muss man für den kommerziellen Einsatz Lizenzen kaufen, sofern die Firma mehr als zwei Mitarbeiter hat.

Natürlich gibt es auch bei Joplin einige Plugins, die ich nutze. Darunter das E-Mail Plugin. Dies überwacht eine Mailadresse oder/und einen IMAP-Ordern auf dem Mailserver und importiert entsprechende Mails direkt in Joplin. Das war eine der Funktionen, die ich bei Evernote besonders geschätzt habe. Man kann auch eine Mail mit einer Notiz an sich selbst schicken und das Plugin erstellt daraus eine Notiz in Joplin.

In die gleiche Kerbe schlägt das Hotfolder Plugin. Man definiert einen Ordner auf dem Rechner, der dann als Sammelbox dient. Legt man z. B. eine Textdatei, PDF oder ein Bild in den Ordner, werden diese als Notizen in Joplin importiert. Auch das war eine Funktion, die Evernote bot.

Leider werden viele Plugins nicht mehr weiterentwickelt und das Ökosystem um Joplin ist nicht so groß, wie es bei Obsidian ist. Aber wie gesagt: Dieser Nachteil kann auch ein Vorteil sein.

Obsidian speichert alle Daten – im Gegensatz zu Obsidian – in einer lokalen Datenbank, man kann aber alle Inhalte als Markdown exportieren. Da es Joplin auch in einer Cli-Version gibt, kann man das sogar automatisieren. Überhaupt finde ich die Kommandozeilen-Option ziemlich charmant.

Joplin im Terminal

Der Web-Clipper von Joplin arbeitet sehr ordentlich und die Joplin Search Integration zeigt passende Inhalte aus Joplin neben einer Google Suche an. Auch das ist eine Funktion, die ich von Evernote kenne.

Die Browser-Erweiterung MemoInjo kann für schnelle Notizen mit festem Zielnotizbuch in Joplin genutzt werden.

Fazit

Während Obsidian für einige Nutzer, die Zeit und Freude an der Optimierung ihrer Systeme haben, durchaus geeignet sein mag, ist Joplin für die meisten Anwender die produktivere Wahl. Es bietet einen ausgewogenen Mix aus Funktionalität und Benutzerfreundlichkeit, ohne in die Falle des Produktivitätsparadoxons zu tappen.

Oder man wählt eine Kombination aus verschiedenen Tools, die jeweils spezifische Aufgaben erfüllen. Mit Joplin oder einer geeigneten Tool-Kombination kann man sich auf das Wesentliche konzentrieren – Gedanken festhalten und zu organisieren, anstatt endlos am Notiz-System zu feilen. Die Folge davon ist nämlich das Gefühl, nie fertig zu sein.

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