Was mir seit langer Zeit und in sehr vielen Bereichen auffรคllt ist, dass man sich offenbar nirgends mehr festlegen will. Egal ob es nur die Fotografie, Musik, Politik oder die Beziehung ist โ man mรถchte sich alles und fรผr immer offen halten โ beherzte und endgรผltige Entscheidungen sind offenbar out.
Nehmen wir mal das Beispiel Fotografie: Wir fotografieren รผberwiegend digital, was zweifelsfrei viele Vorteile mit sich bringt, gรผnstig ist und viel Spaร macht. Die Mรถglichkeiten der digitalen Fotografie fรผhren aber auch dazu, dass wir uns schon beim Erfassen des Motivs (und mehr ist Fotografieย nicht) nicht mehr festlegen, denn wir machen zur Sicherheit gleich mehrere Versionen mit Belichtungsreihen, unterschiedlichen Bildausschnitten usw. – Speicherplatz ist ja genรผgend vorhanden. Klar, dass wir natรผrlich auch im RAW-Format fotografieren โ man mรถchte sich ja nicht gleich auf einen Weiรabgleich, eine Schรคrfeeinstellung oder einen Farbraum festlegen mรผssen.
Viele trauen sich nicht mit einer Festbrennweite loszuziehen โ man kรถnnte sich ja zu sehr festlegen.
Ebenso bei der Musikproduktion: Plugins lassen uns jede Entscheidung offen. Mit Automationen kรถnnen wir einen Mix jederzeit bis ins kleinste Detail korrigieren. Wenn wir eine Gitarre aufnehmen, setzen wir auf Re-Amping, denn damit lassen sich Grundsound, Verzerrung und der ganze Rest nachtrรคglich noch verรคndern โ die Technik gibtโs schlieรlich her. Wir probieren Berge von Equalizer-Plugins aus und lesen in Foren nach, welche davon dieย besten wรคren, da wir uns nicht mehr auf das eigene Gehรถr verlassen wollen – oder uns noch nie darauf verlassen haben. Wie bei der RAW-Fotografie gehen wir รผber den besten Wandler in den Rechner. Und nur nicht schon vorher irgendwas bearbeiten, was man spรคter nicht mehr rรผckgรคngig machen kรถnnte!
Eine unbegrenzte Anzahl an Aufnahmespuren ermรถglicht unbegrenzte Versuche und Varianten und wenn es doch nicht klappt, schnippseln wir aus vielen mittelmรครigen Takes einen (vermeintlich) guten zusammen, was man Comping nennt und auch bei den Profis eine gรคngige Technik ist.
Jedes Gerรคt das wir uns kaufen, soll mรถglichst vielseitig sein, egal ob Handy, Computer oder Fernsehgerรคt. Ob wir die ganzen Funktionen รผberhaupt brauchen und einsetzen ist doch erst einmal egal โ Hauptsache nicht festlegen, man kรถnnte es ja brauchen!
Dabei hรคlt uns diese Vielfalt nur auf โ sie hilft uns nicht weiter! Zu viele Mรถglichkeiten fรผhren dazu, dass wir uns gar nicht mehr Entscheiden kรถnnen. Wir basteln immer und immer wieder an der perfekten Bildkomposition und Korrektur, kรถnnen uns nicht zwischen duzenden von Varianten des gleichen Motivs entscheiden. Wir editieren unsere Werke tot und korrigieren jedes noch so kleine Anzeichen von Leben weg. Die unzรคhligen Mรถglichkeiten arbeiten stรคndig gegen unser Bauchgefรผhl und sagen: โHey, da kann man noch was verรคndern โ das muss nicht so bleiben, vielleicht geht noch mehr!โ. Damit werden wir zu entscheidungsunfรคhigen Marionetten der Technik, die im Verbesserungswahn den besonderen Moment vernichten, bevor sie ihn erkennen.
Wenn man unsere heutige Arbeitsweise mit unbegrenztem โUndoโ mit der eines Bildhauers vergleicht, erkennt man sofort den Unterschied: Wir drรผcken Steuerung-rรผckgรคngig wenn etwas schief geht oder uns nicht gefรคllt. Der Bildhauer muss umdenken oder von vorne beginnen, wenn ein Stรผck Stein zu viel weggeklopft wurde. Aber genau daraus entsteht vielleicht etwas ganz Neues, viel Besseres und absolut Einzigartiges.
Wir kรถnnen nicht mehr aus unseren Fehlern lernen, denn wir kรถnnen sie sofort und ohne Konsequenzen rรผckgรคngig machen โ aber dadurch machen wir sie immer wieder, da sich die Erfahrung daraus nicht in unserem Denken verankern kann. Mancher wรผrde sich sogar ein STRG+Z fรผr das eigene Leben wรผnschen …
Macht euer Ding und traut euch wieder was! Holt euch den Nervenkitzel der finalen Entscheidung zurรผck und schรคrft damit eure Aufmerksamkeit!
Ist aber nur eine Anregung – ich mรถchte euch da nicht festlegen!
Letzte Aktualisierung am 10.07.2025 / Affiliate Links / Bilder von der Amazon Product Advertising API
Meine Mamya 645 Super hat kein Zoom. 45, 80, 120 mm sind die Festbrennweiten. Und wenn das Bild gut wurde, war meist das 80er verantwortlich (entspicht 50mm bei KB). Reduktion auf das Wesentliche war immer Auslรถser fรผr Auรergewรถhnliches. Das Bad in der Vielfalt ist der Vater der Beliebigkeit.
Ich habe vor ein paar Wochen alle meine Synthies und Sampler (nur Hardware) vom Computer abgelรถst. Ich verbinde jetzt ein paar Gerรคte mit Keyboard mit den Rack-Instrumenten und spiele live. Als Sequenzer versuche ich mich an Director-S bzw. an den MPC-500 der in meiner alten W-30 eingebaut ist. Auch der Sequencer in meiner MC-303 macht mir wieder Spaร. Der kann auch Fehler aufzeichen รขโฌยฆ
Hallo Markus,
ich hatte mal die Gelegenheit auf einem Rangierbahnhof zu fotografieren und hatte nur mein 90 mm Ojektiv dabei (damals noch KB). Weil ich kein Zoom hatte, muรte ich mich viel mehr bewegen um immer wieder neue Standpunkte auszuprobieren. Die Bilder waren letztendlich viel ideenreichen und ganz anders als das, was ich bis dahin mit Zoom fotografiert hatte. Seit dem verwende ich nur noch Festbrennweiten, die Bilder werden einfach persรถnlicher.
Viele Grรผรe
Wolfgang
Ja, ich denke du hast recht. In gewisser Weise kann man das „sich nicht festlegen wollen“ als eine Krankheit bezeichnen, die einen daran hindert, das hier und jetzt zu leben. Es kรถnnte ja noch mal etwas besseres geben, also lass ich mich lieber nicht zu sehr auf den Augenblick ein.
Im รbertragenen Sinne trifft das auf viele Lebensbereiche zu, z.B. auch auf Partnerschaften oder Leute, die stรคndig auf der Suche nach dem ultimativen Gadget sind.
Hallo Markus.
„Viele trauen sich nicht mit einer Festbrennweite loszuziehen รขโฌโ man kรถnnte sich ja zu sehr festlegen.“
Ich lege mich mal fest: ich hab 2 Festbrennweiten: 50 und 85er an der Canon 400d. Das 28-105 kommt bald unter den Hammer weil ichs nicht nutze. ๐
Soviel dazu vom mir. Aber recht hast du.
Grรผsse Marcel
Hallo Markus,
sehr gutes Statement!
Taucht dann auch in Form von Beliebigkeit auf ๐
Ich erinnere mich an einen Satz eines zeitgenรถssischen Philosophen (Name entfallen),
der sagte, dass die heutige – technischen – Errungenschaften nur ein Entwickeln von Techniken und Methoden sind, die das Bestehende im Zaume halten soll.
Danke fรผr die Anregungen zum Wochenende.
Thomas
Hehe…du sprichst mir aus dem Herzen ๐